ERFAHRUNGSBERICHT | VISIONSSUCHE 2006

Bild: Block und Stift

Heute ist es der Westen. »Westen!« – diese Himmelsrichtung symbolisiert Jugend und Erwachsenenalter beim Durchwandern des Medizinrades, das viel, viel älter ist, als ich es bin – ich fühle mich leicht und ich bin gespannt darauf, was mir die Natur, deren kleiner Teil ich bin, lehrt. Die Mecklenburg-Vorpommersche Sonne brennt diesen Sommer. Zikaden im noch feuchten Gras der Wiesen, die die Traktorenspur, der ich folge säumen, besingen meinen Weg in die Einsamkeit.

Ich bin unsichtbar. Nicht wirklich, aber ich bemühe mich, mich unsichtbar zu fühlen. Das Ritual erfordert, dass ich mich schutzlos mache. Eine Auszeit soll es sein! – meine Auszeit wird es werden. Ich habe Rituale bis jetzt immer belächelt. Trotzdem – ich finde es schön. Wie gestern schon liegen einige Stunden des Schweigens vor mir. Schweigen, das macht mich offen zu hören.

Mein Gepäck beschränkt sich auf das Allernötigste. Wasser satt, kein Essen, nur einen schönen, schwarzen Molesquinblock mit Bleistift, sonst nichts. Meine Intention habe ich im Kopf und die wiegt schwer genug. Ich bin gespannt, ob ich Antworten finden werde.

Gestern war es der Süden, den ich erkundete. »Süden!« – der steht für Kindheit und Pubertät. Blauäugig war ich. Groß waren meine Erwartungen. Leise hat die Natur zu mir gesprochen. Eine kleine tote Spitzmaus lag mitten auf meinem Weg. Die hatte ganz dünne Beinchen, das verwunderte mich. Stunden später lag ich etwas enttäuscht im Gras. Was werde ich heute Abend in der Runde zu erzählen haben?

Über mir, majestätisch kreisend, war ein echt großer Vogel gewesen. Ich starrte hinauf in die Luft und folgte den großen und kleinen Schleifen des Tieres, während ich überlegte, was dieser Freund mich wohl lehren mochte.

Sehr viel später überschlug ich meine Entfernung zu unserem Aufenthaltsort, ein kleines, sehr ländliches Dorf inmitten von weitläufigen Feldern und Wald. Im Zentrum – das war mein Eindruck – an einen der vielen Seen geschmiegt, lag das Pastorat aus roten Ziegeln erbaut, alt, mit Terrasse aus Holz und einem Steg hinein über das Wasser und mit genug Raum, um – wenn man genügsam ist – sich wohl fühlen zu können. Allmählich dachte ich, war es Zeit, unseren Ort aufzusuchen.

Es war dann früher Abend geworden. Wir versammelten uns im spirituellen Kreis, um zu spiegeln. Die Erfahrungen, die jeder Teilnehmer von seiner Wanderung mitbringt und vorträgt, werden von unserem Leitungsteam mit uralter, symbolischer Auslegung verbunden und interpretiert – ich war die Maus, die das Augenlicht spenden wird, um ein Adler zu werden, gestern.

Jetzt hängen erneut in unserem Spiegelungskreis – wie gestern morgens und abends und heute Morgen schon – dichte Schwaden Rauch von kräftigem, weissen, aromatisch schwelendem Salbei dick in der Luft. Das Ritual reinigt uns und stimmt uns ein. Wir geben die rauchende Schale von einer Hand in die andere. Wir schildern nacheinander unsere Erlebnisse, hören den Anderen zu und staunen, wie sich die Begegnungen mit der Natur einfügen lassen und passig sind, für den Lebensweg der Visionssuchenden.

Ich wandere in den Norden, ich wandere in den Osten. Ich freue mich auf das Zusammensein in unserer Runde, auf die Gespräche, auf die gemeinsame Zeit. Irgendwie spüre ich, dass mein persönlicher Horizont eine veränderte Weite erhält.

Nach vier Tagen Vorbereitung geht es heute ab in den Wald. Wir alle sind aufgeregt. Vor uns liegt eine viertägige Fastenzeit, ein schutzloses Ausharren allein in der Natur, schweigend, gelangweilt, hungrig. Ich mit mir und ich und ich. Es wird Regen geben. Es wird unangenehm werden. Es wird ein anhaltender Kampf mit kleinen Insekten. Jetzt werde ich initiiert nach fast vergessenem, ehrwürdig-magischen Brauch, denke ich, der Mann aus der Stadt – dann forme ich meine Lippen zu einem humorigen Schmunzeln.

Ich suche mir einen »kräftigen« Platz für mein Lager. Ich habe eine Plane dabei, zum Schutz gegen Regen, Kleidung zum Wechseln, die Trillerpfeife, um mich bemerkbar zu machen, wenn ich Hilfe bräuchte aufgrund von Verletzung, einen Schlafsack und wichtig, wichtig, Wasser in Massen. Das Fasten hat schon begonnen. Jeden Tag legen wir Zeichen, um mitzuteilen, dass wir gesund sind und guten Mutes. Ich bin erstaunt, ich hätte mir nicht vorstellen können, mich nachts, wenn es stockduster ist, schutzlos allein im Wald aufzuhalten. Ich höre die Stimmen der Wildnis, ich spüre die Langeweile, die mich erbarmungslos packt, fester und fester hält. Allmählich verschwimmt die Zeit zu einem Brei von Nacht und Tag und Regen, Gewitter und Sonnenschein.

Ich habe Aufgaben zu erledigen. Heute sind es die Ahnen. Ich grüße sie, ich spüre sie, ich bin ein Glied einer langen Kette des Lebens. Heute Nacht wird es ernst. Das Finale liegt vor mir, es wird gewacht, die ganze Nacht hindurch, bis zum Morgengrauen. Werde ich meine Vision erfahren?

Ich sitze im Schneidersitz da und versuche, nicht einzuschlafen. Ich bin entkräftet. Die wenigen Stunden werde ich auch noch ertragen. Die Nacht ist feucht und ich bin dick angezogen. Unterhemd, T-shirt, Pulli und Jacke. Wenig hat sich ereignet. Kaum ein Getier ist mir begegnet, außer dem Reh mit dem Kitz, vorgestern. Und Billionen kleiner Ameisen in ihrem riesigen Bau. Den hatte ich aufgrund seiner Größe erst zu spät erkannt und folglich hatte ich eine Spur der Zerstörung dort hinterlassen. Das tut mir leid – immer noch. Ausserdem bin ich enttäuscht. Alles ist unspektakulär. Was gibt es zu erzählen? Ein wärmendes Feuer, das wäre schön, geht aber nicht, Waldbrandgefahr!

Plötzlich höre ich alarmierende Schreie. Hell und durchdringend klingend, vielstimmig und durcheinander, aufgeregt, in meiner Nähe, todernst. Ich zucke zusammen, ich starre hinein in die Finsternis. Ich bin reglos, atme. Diese Tierstimmen mit ihrer Aufgeregtheit machen mich schlagartig wach. Alle Haare auf Kopf und Armen stehen mit einem Mal gerade wie Zinnsoldaten. Schweine – denke ich – Bache mit Frischlingen – die schreien so – sollen so schreien – ich kenne es nicht – das soll gewöhnlich sein, hier, zu dieser Jahreszeit! Ich kann es nicht orten. Ich beruhige mich und bin jetzt nahezu ohne Furcht. Ich kann es nicht sehen. Dunkel ist es. Bin ich eingenickt? Ich stehe auf. Das lange Sitzen hat mir schmerzende Beine beschert. Wann wird es hell, denke ich. Die Stunden verstreichen.

Endlich, jetzt dämmert es, scheint mir. Soll ich mein Lager abbauen, jetzt schon? Eine seltsame Hast sickert in mein Befinden. Die Zeit ist gekommen, schnell weg! Ich beuge mich meiner Unruhe, ich packe zusammen, stopfe alles hastig in meinen Rucksack hinein und schnüre zusammen, fülle die Tragetaschen aus Leinen. Ich fliehe den Ort unter den Birken, der für vier Tage und Nächte meine Heimat gewesen ist. Ich vergesse, mich zu verabschieden, von meinem Ort, der mir heilig ist, der sich einbrennen wird in meine Erinnerung, so eilig ist mir. Nur weg von hier, befielt meine innere Stimme. Ich freue mich auf das Wiedersehen mit meinen Genossen und ich bin froh das hier überstanden zu haben.

Mit großen Schritten stapfe ich davon, mein Gepäck auf dem Rücken und mit Taschen beladen. Mittlerweile ist es schon hell. Der nasse Dunst in den Bäumen sieht märchenhaft aus. Ich fühle mich feucht, klebrig und aromatisch. Man empfängt mich in einem Kreis, der mit hellen, dunklen, rötlich und grünlich farbenen großen und kleinen Steinen gezogen ist und einen mehr als mannshohen Durchmesser aufweist – ich bin erleichtert. Die nativ-amerikanische Schamanenrassel und Salbeirauch heißen mich scheppernd und kernig willkommen. Man umarmt mich, frau drückt mich. Ich freue mich sehr, heiter ist es. Erleichterung spüre ich um mich herum. Ich trinke Kaffee, unterhalte mich angeregt und esse Obst aus vielen Schüsseln, die auf einer Decke ausgebreitet liegen, für uns zum Verzehr bereit und mit Blumen geschmückt.

Wir kehren zurück in den Alltag und gliedern uns behutsam in die Gesellschaft ein. Wir gehen es langsam an. Vier Tage gönnen wir uns. Wir reden viel. Wir essen hungrig und treffen uns häufig im Kreis. Jeder hat viel zu berichten, vier Tage lang, der Reihe nach. Wir lauschen, wir senden, wir sind erstaunt.

Schade, zwölf intensive Tage sind jetzt Vergangenheit. Ich fahre im Auto mit Tempo 100 dahin, nach Hause, zu meinen Freunden und meiner Freundin. Mein Platz im Leben hat sich geändert, ich spüre das, obwohl ich nicht genau fassen kann, was anders sein könnte. Meine Visionssuche dauert an und reift in meine Zukunft hinein, behutsam.

Das alles ist jetzt ziemlich genau fünf Jahre her – ein Geschenk! Noch immer ist meine »Suche« nicht abgeschlossen. Es wirkt! Ich bin glücklich mit meiner Frau und ich liebe unsere zwei herzigen, noch kleinen Kinder. Erst jetzt, nach Jahren, erkenne ich, was es für mich und mein Leben heißt, ein Adler zu sein, die Maus, die blind ist und die Bache, die schreit und das Reh mit dem Kitz, die Ameisen und ihr Bau; diese Symbole sind Steinchen auf meinem Lebensweg. Sie halten mich, sie lehren mich, sie heilen mich. Gern will ich noch einmal eine Visionssuche starten, später, wenn das Alter – oder wann immer...

Bild: Portrait

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Allein Verantwortlich für den gesamten Inhalt dieses Berichts ist Andreas Bux | Jürgen-Töpfer-Straße 13 | 22763 Hamburg.

Bild: Adler fliegt
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